Das Narr
Erschienen in Narr #18
Knatterratterhuphup
Frau Rotblatt kann nicht schlafen, weil Herr Rotblatt schnarcht. Knatterratterknatterratterhuphup, so klingt das in Frau Rotblatts Ohren. „Warum weckt sie ihn nicht einfach?“, fragen Sie sich jetzt vielleicht. „Warum tritt sie nicht mal ordentlich gegen sein Schienbein und tut, wenn er grummelt, so, als wäre es im Schlaf passiert?“ Weil Herr Rotblatt morgen wieder früh zur Arbeit muss, deswegen. Weil Herr Rotblatt das Geld verdient, das in den letzten 28 Jahren zwei Kinder, drei Hunde, eine streunende Katze, insgesamt acht Kaninchen, einen Goldfisch, eine gefräßige französische Austauschschülerin und Frau Rotblatt ernährt hat, deswegen. Und Herr Rotblatt schnarcht ja nun wirklich auch nicht jede Nacht, nur, wenn er ein bisschen was getrunken hat. So wie heute Abend bei einem Geschäftsessen. Seiner Frau kommt es zwar etwas unseriös vor, mit Geschäftspartnern so viel zu trinken, aber Frau Rotblatt hat von diesen Dingen auch überhaupt keine Ahnung. Draußen schuhut ein Uhu. Der Mond scheint unangenehm hell ins Zimmer. Weil Herr Rotblatt in komplett verdunkelten Räumen schlecht zu schlafen glaubt, gibt es hier keine Rollos, sondern nur lufthauchdünne Gardinen. Frau Rotblatt hatte sie vor einem Vierteljahrhundert aussuchen dürfen und sich damals für eine zartrosa beblümte Variante entschieden. Wie dumm man doch mit Mitte 20 ist. Man denkt nicht weiter als bis Übermorgen und wundert sich, wenn man dann plötzlich von vorgestern ist.
Knatterratterknatterratterhuphup rumort es aus den Tiefen der ehemännlichen Kehle. Frau Rotblatt hält sich die Ohren zu und starrt mit weit geöffneten Augen an die Decke. Morgen muss sie mit Lulu zum Tierarzt, der Hund hatte seit Tagen keinen Stuhlgang. Danach will sie mit dem neuen Dampfreiniger die Fliesen im Flur säubern, vor allem die Fugen sehen unmöglich aus. Frau Harling von nebenan hat ihr das Gerät empfohlen, es reinige rückstandslos und antibakteriell. Am Abend kommen dann die Böhmerts zu Besuch, da soll es Rehrücken an Preiselbeersoße mit Salzkartoffeln geben, das kocht sich auch nicht von allein. Frau Rotblatt wird sich wieder den ganzen Abend mit Frau Böhmert über Terrassenbeetbepflanzung unterhalten müssen, dabei hat diese Frau selbst gar kein Terrassenbeet, nicht mal eine Terrasse, bloß einen Balkon, den sie mit fertig bepflanzten Blumenkästen zu behängen pflegt. Frau Rotblatt findet das seltsam. Plötzlich klatscht ein Arm in ihr Gesicht. Sie müssen wissen, dass Herr Rotblatt , wenn er getrunken hat, nicht nur schnarcht, sondern auch hin und wieder „Zappelanfälle“ bekommt. So nennt jedenfalls seine Frau es, wenn er ziemlich genau eine halbe Minute lang wild mit allen Gliedmaßen umher schlägt, ohne selbst davon aufzuwachen. Auch in dieser Nacht hat er einen solchen Zappelanfall. Ganz am äußersten Rand des Bettes liegt Frau Rotblatt, rücksichtsvoll darauf wartend, dass die halbe Minute um ist. 27, 28, 29... huch. Auf einmal spürt sie etwas vollkommen Ungewohntes: die Hand ihres Mannes auf ihrer linken Brust. Vor Schreck wagt Frau Rotblatt es nicht, sich zu bewegen. „Wieso denn das?“, fragen Sie jetzt möglicherweise verwundert. „Die Hand des Ehemannes auf der eigenen Brust sollte doch höchst erfreulich sein!“ Ach, Sie sind wohl noch sehr jung. Und außerdem haben Sie anscheinend vergessen, dass Herr Rotblatt immer noch schläft und seine Hand sicher nicht absichtlich auf der Brust seiner Frau abgelegt hat. Herr Rotblatt legt nämlich schon lange nicht mehr freiwillig seine Hand auf irgendeinem Körperteil seiner Frau ab. Seit wann das so ist? Das kann keiner mehr so genau sagen, nicht mal Herr Rotblatt selbst. Er weiß nur, dass er Marianne früher sogar mal sehr gern berührt hat.
Knatterratterknatterratterhuphup. Frau Rotblatt erträgt das jetzt nicht mehr länger. Außerdem hat sie Lust auf Schokolade. Seit einigen Jahren schon überkommt sie nachts eine nicht zu zügelnde Gier nach Yogurette. Vor allem dann, wenn sie nicht schlafen kann, also wenn ihr Mann schnarcht, also wenn er getrunken hat. Deshalb steht Frau Rotblatt jetzt auf, ganz leise, zieht sich ihren Morgenmantel über und huscht auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer. In der Küche riecht es noch nach Zwiebeln. Zum Abendbrot hat es Rührei gegeben, das macht sich Frau Rotblatt oft, wenn sie allein essen muss. Mit einem kleinen, nicht uneleganten Hüpfer lässt sie die knatschende Diele aus. Sie öffnet die Kühlschranktür (zimmerwarme Schokolade kann Frau Rotblatt beim besten Willen nicht ausstehen) und – na nu? Die Yogurette-Schachtel liegt leer im Gemüsefach. Leer. Es soll hier niemand konkret verdächtigt werden, aber Frau Rotblatt ist sich absolut sicher, nicht die letzte genommen zu haben und sonst wohnt hier eben bloß noch Herr Rotblatt. „Und was jetzt?“ Ja, was würden Sie denn in so einer Situation machen? Sie wollen Schokolade, nein Sie BRAUCHEN Schokolade, es ist keine im Haus und es ist mitten in der Nacht... Eben. Auch Frau Rotblatt weiß, dass ihr wohl nichts anderes übrig bleibt, als eine Tankstelle aufzusuchen. Etwas unentschlossen steht sie im Flur. Sie trägt bloß ihren Morgenmantel, aber wenn sie nun wieder ins Schlafzimmer ginge, um sich etwas zum Anziehen zu holen, könnte sie Herrn Rotblatt wecken, und der muss, Sie erinnern sich vielleicht, morgen wieder früh zur Arbeit. Auch will sie, um ihre Schuhe herauszusuchen, kein Licht im Flur machen, denn das könnte die Treppe rauf durch den Türspalt ins Schlafzimmer gelangen und so die Nachtruhe ihres Mannes stören. „Aber der mag es doch überhaupt nicht so dunkel beim Schlafen!“, würden Sie an dieser Stelle vielleicht gern einwenden, weil Sie möglicherweise jemand sind, der sehr gut aufpasst. Nur mag Herr Rotblatt es eben auch nicht zu hell, das ist ein feiner Grat. Jedenfalls schlüpft Frau Rotblatt jetzt einfach schnell in ihre Gummistiefel, die sie immer anzieht, wenn sie mit dem Hund spazieren geht. „Ja der Hund, wo ist der denn eigentlich? Der schlägt ja gar nicht an!“, können Sie sich jetzt womöglich kaum zurückhalten, dazwischenzurufen. Dazu sei Ihnen gesagt: Mit dem Hund verhält es sich so, dass er schon recht alt ist und darum nicht mehr besonders gut hört. Es ist einer dieser Hunde, die man wach rütteln muss, wenn man sie füttern will, Sie haben vielleicht von solchen gelesen. Frau Rotblatt zieht also die Gummistiefel an, greift zum Schlüsselbrett, zögert eine Sekunde und nimmt dann kurz entschlossen den Autoschlüssel ihres Mannes, anstelle des eigenen. Herr Rotblatt sieht es zwar gar nicht gern, wenn seine Frau den Sportwagen fährt, aber er schläft doch gerade und kann es also überhaupt nicht sehen. Leise verlässt Frau Rotblatt das Haus.
Es ist schon eine eher ungewöhnliche Erscheinung, die da im SLK aus der Tiefgarage in die Nacht braust. Die Gummistiefel... der Morgenmantel... die dunklen Augenringe... Lockenwickler haben Sie sich hoffentlich längst selbst dazu gedacht. Hinzu kommt, dass Herr Rotblatt im Zuge seiner letzten Midlifecrisis den Fahrergurt seines Wagens silber-blau besticken lassen hat, so dass er jetzt an eine Siegerschärpe erinnert. Frau Rotblatt sieht also alles in allem aus, wie eine alternde Dorfschönheitskönigin, die seit 30 Jahren lächelnd, winkend und einsam vorm Spiegel sitzt. In diesem Aufzug kann sie natürlich auf keinen Fall an der Tankstelle im Ort vorfahren. „Hat Sie denn eine Wahl?“, droht es eventuell aus Ihnen herauszuplatzen, weil Sie vermutlich aus Berlin kommen oder auch nur dort hingezogen sind und mit der Arroganz eines Großstadtbewohners auf die lose besiedelte Randgebietsgegend blicken, in der die Rotblatts leben. Natürlich hat sie eine Wahl. Man hat immer eine Wahl, wussten Sie das denn nicht? Jedenfalls dann, wenn man auch die zweite in Betracht zieht. Die Autobahn ist beinahe leer. Nur ab und zu kommt Frau Rotblatt ein Wagen entgegen. „Waaas?!?“, keuchen Sie höchst wahrscheinlich gerade innerlich, weil Sie noch nie verstehen konnten, wie man verkehrt herum auf die Autobahn fahren kann. Dunkelheit spielt eine Rolle, Müdigkeit, allgemeine Zerstreutheit. Aber eigentlich ist es doch auch ganz egal, wie man dazu kommt verkehrt herum auf die Autobahn zu fahren. Interessanter ist doch viel mehr, wie man nicht merken kann, dass offensichtlich irgendetwas komisch ist, wenn einem auf der Autobahn mehrere Autos entgegenkommen. Frau Rotblatt merkt es nicht. Sie müssen jetzt deswegen nicht gleich denken, dass Frau Rotblatt dumm wäre oder gar geistesgestört. Sie hat eben einfach nur so unglaublich enormes Verlangen nach Yogurette, dass sie gerade nicht mehr an so viel Anderes denken kann. Deswegen wird ihr auch erst recht spät, Pessimisten würden sagen zu spät, bewusst, dass die vier Lichter, die da auf sie zu rasen, Scheinwerfer zweier Lastkraftwagen sind, welche hupend um Aufmerksamkeit für die Tatsache werben, dass ihnen weder Zeit zum Bremsen bleibt, noch die Möglichkeit zum Ausweichen besteht.
Knatterratterknatterratterhuphup.
Es entspricht nicht den Regeln der Realität, dass Frau Rotblatt diesen Unfall unverletzt überlebt. Ebenfalls unwahrscheinlich ist es, dass sich in einem der beiden Lastwagen eine Ladung Yogurette befand, die nun über die zweispurige Autobahn verteilt liegt. Wenn Ihnen nun noch erzählt würde, dass der zweite Lastwagen Daunenkissen transportiert hat, weswegen nun tausende und abertausende weiße Entenfedern durch die dunkle, klare Nachtluft schweben, würden Sie dann gehen? Grußlos womöglich? Oder würden Sie es hinnehmen, als literarischen Kunstgriff deuten und sich freuen, dass Ihre ungefähr seit der Mitte der Geschichte feststehende Interpretation der Yogurette als Kompensationsmittel für schwindende Liebe und Zärtlichkeit in einer tristen Langzeitehe immer noch haltbar ist? Sind Ihnen vielleicht sogar Anzeichen dafür aufgefallen, dass alles nur ein Traum war? Sie hatten den Verdacht sogar schon vor dem plump gesetzten letzten Schnarcher? Weil der Hund nicht gebellt hat? Aber es wurde doch extra erklärt, dass... sei’s drum. Es ist Ihre Sache, was Sie glauben. Auf die Geschichte nimmt Ihre Meinung ohnehin keinen Einfluss. Die geht nämlich – so oder so – folgender Weise aus: Frau Rotblatt steigt aus dem unversehrten Wagen ihres Mannes, nimmt sich eine Yogurette – ja, nur eine, mehr isst sie nachts nie – und legt sich damit in ein Bett aus weichen Daunenkissen. Sanft wird sie von herabrieselnden Federn zugedeckt. Und endlich schläft sie ein.