
Poetin
Kurze Geschichten über traurige Frauen – Erschienen in der Poetin Nr. 27
Wir warteten an der Haltestelle, der Bus war zu spät
Sie sah aus wie jemand, der einen schönen Garten hatte. Ich stellte sie mir mit einem Strohhut vor, in Gummistiefeln. Ich ließ sie in Gedanken Schnecken vom Salat pflücken. Sah sie, wie sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischt, eine schwarze Erdspur hinterlassend. Konnte hören, wie sie die Heckenschere am Rhododendron auf- und zuschnappen lässt. Spürte, wie sie die Hände in die Hüften stemmt und zufrieden ihr blühendes Werk überblickt, während die Sonne allmählich in den Wipfeln der Pflaumenbäume verschwindet. Jetzt ist es an der Zeit, die Fackeln ins Beet zu stecken und Lampions in die Äste zu hängen, eine Dusche zu nehmen, den Radieschensalat anzurichten und die Tomatenquiche in den Ofen zu schieben. Schnellschnell, der Tisch muss noch gedeckt werden, einmal in die Gläser gepustet, damit sich kein Staub unter die selbstgemachte Holunderlimonade mischt. Ein kleiner Strauß Lavendel in die Mitte und alles ist bereit! Aber nein. Langsam geht sie in den Schuppen, das Kreuz schmerzt vom Unkraut jäten. Sie holt die vergilbten Plastikschonbezüge, vier kleinere für die Stühle, einen großen, für die Hollywoodschaukel, deckt alles ab, zieht die Gummistiefel aus, bevor sie im kühlen Haus verschwindet. Ich beneidete sie nicht um ihren Garten.
Warum ich eines Tages für immer verschwand, wie vom Erdboden verschluckt
Ich kaufte mir nicht oft neue Schuhe, da ich ungewöhnlich große Füße hatte und das Anprobieren der schmal geschnittenen Damenmodelle meist demütigend und frustrierend war. Dieses eine Mal aber war es anders. Kaum hatte ich den Schuhladen betreten, sah ich sie. Das Ausstellungspaar hatte bereits die richtige Größe, etwas, was so gut wie nie vorkam, und so konnte ich mir die Unannehmlichkeit sparen, danach zu fragen. Das Anprobieren fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. Nie zuvor hatte ich in Schuhen gesteckt, die nicht an irgendeiner Stelle drückten. Ich behielt sie gleich an. Am selben Abend musste ich feststellen, dass ich sie nicht mehr ausziehen konnte. Sie waren, ohne dass ich den Vorgang bemerkt hätte, kurz über den Knöcheln mit meiner Haut verwachsen. Seltsamerweise geriet ich nicht in Panik. Vielleicht hätte ich ins Krankenhaus fahren sollen, stattdessen war ich erleichtert. Ich würde nie wieder Schuhe kaufen, nie wieder darüber nachdenken müssen, welches Paar dem Rest meiner Kleidung oder dem Anlass angemessen war. Einige Wochen lang war ich glücklich. Dann passierte erneut etwas Sonderbares: Obwohl ich mich nur in der Stadt bewegte, nur über asphaltierte Straßen und betonierte Gehwege in saubere Gebäude ging, rieselte bei jedem Schritt ein wenig Erde aus dem Profil meiner Sohlen. Ein Kollege machte mich darauf aufmerksam, er scherzte, ob ich neuerdings im Wald wohnen würde, ich lachte mit, aber in Wahrheit spürte ich Sorge in mir aufsteigen. Ich eilte in die Damentoilette, um dem Problem mit einer gründlichen Reinigung zu begegnen – vergeblich. Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Um den Kopf frei zu bekommen, brach ich zu einem Spaziergang auf. Ich war erst dreimal abgebogen, da wusste ich schon nicht mehr genau, wo ich war. Die Abstände zwischen den Häusern wurden größer, die Abstände zwischen den Bäumen kleiner und plötzlich fand ich mich in einem dichten Wald wieder. Ich drehte mich um, aber ich konnte nicht mehr sagen, aus welcher Richtung ich gekommen war. Also bin ich geblieben.
Schön, dass es endlich wieder grüner wird, nicht wahr?
Sie wusste es genau. Dass da jemand in der Hecke lag, dass er auf sie lauerte und irgendwann herausspringen würde, wenn sie es einmal wagen sollte, nicht mit dem Gedanken »Da liegt einer« vorbeizugehen. Dass er sie dann packen und mit bloßen Händen erwürgen würde. Ja, das wusste sie genau. Das musste sie mit niemandem besprechen, da gab es keine zwei Meinungen, keine Notwendigkeit zum Austausch. Einmal hatte sie es trotzdem versucht. Auf einer Parkbank ganz in der Nähe hatte sie zu einer jungen Frau gesagt: »Da hinten liegt einer.« »Wo?«, hatte die Frau wissen wollen. »Da hinten im Gebüsch.«, hatte sie erwidert. »Der liegt da und lauert alten Frauen auf, bringt sie um für das bisschen Rente, das sie in ihrer Handtasche spazieren tragen.« »Und weiß die Polizei davon?«, fragte die Frau. »Die weiß davon, ja, ja. Die weiß davon.« Die andere nickte nur. Und auch sie schwieg, hatte keine Lust mehr, über den in der Hecke zu reden, schon gar nicht mit jemandem, der sich so dagegen sträubte, ihr zu glauben und womöglich noch versuchen würde, sie davon zu überzeugen, dass keine Gefahr bestünde. Schließlich wäre das genau das, was der in seiner Hecke wollte: dass sie eines Tages vorbeigehen würde, ohne zu denken: »Da liegt einer.«
Darf ich fragen, worüber Sie lachen?
Eigentlich kenne ich diese Frau überhaupt nicht. Ich weiß nicht mal, wie sie heißt oder wie alt sie ist, wo sie herkommt oder welches Verhältnis sie zu ihrer Mutter hat. Seit einiger Zeit aber sehe ich sie beinahe täglich, immer zufällig. Haben Sie sich mal Gedanken darüber gemacht, wie viele Leute Sie täglich sehen, ohne es zu merken, weil die betreffenden Personen einfach nichts Merkwürdiges an sich haben? Und könnte es nicht sein, dass manche dieser Leute im Gegensatz zu Ihnen ganz genau wissen, dass Sie einander ständig begegnen, weil Sie wiederum irgendetwas Merkwürdiges an sich haben? Diese Frau jedenfalls, die ich täglich sehe, kann man sich gar nicht nicht merken, denn sie verhält sich äußerst ungewöhnlich: Sie bricht ständig in lautes Gelächter aus, obwohl es keinen erkennbaren Grund dafür gibt. Einmal saß sie zum Beispiel vor mir in der Straßenbahn, sah aus dem Fenster und plötzlich, zwischen Hauptbahnhof und Neustädter Tor, platzte es aus ihr heraus. Ein anderes Mal sah ich sie im Supermarkt vorm Joghurtregal stehen, sie nahm einen Becher in die Hand, betrachtete ihn kurz, dann legte sie ihn in den Korb und auf einmal schüttelte es sie vor Lachen. Eines Abends kraulten wir auf nebeneinanderliegenden Bahnen, wir begegneten uns in der Mitte, ihr Kopf tauchte unter, ich sah es schon blubbern, und als sie wieder auftauchte, hallte ihr Lachen durchs ganze Schwimmbad. Ich weiß nicht, ob Sie sich mit dem Phänomen schon einmal auseinandergesetzt haben, aber Lachen ist ansteckend, man kann sich kaum dagegen wehren. Bei unseren ersten Begegnungen war ich noch zu verblüfft, aber irgendwann musste ich schon lachen, wenn ich sie nur sah, auch dann, wenn sie selbst gerade nicht lachte. Neulich hat sie es mitbekommen. Wir saßen uns im Wartezimmer gegenüber und ich prustete los. Seltsamerweise stieg sie nicht darauf ein, sondern runzelte nur die Stirn und setzte sich woanders hin. Jetzt, wo ich Ihnen davon erzähle, fällt mir auf, dass ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe.
Als noch alles seine Ordnung hatte, reisten wir ans Ende der Welt
Ich hatte geträumt, in ein tiefes Loch zu fallen, war zusammengezuckt und davon aufgewacht. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich mich in einem Flugzeug befand. Ich wartete darauf, dass mir einfallen würde, wie ich hier eingestiegen war und wohin ich flog, aber die Erinnerung blieb aus. Ich überlegte, ob ich womöglich immer noch träumte, also aus einem Traum in den nächsten erwacht war, aber etwas in mir wusste genau, dass das hier die Realität war. Ich sah mich um. Ich kannte weder die Frau, die links von mir saß, noch den Mann neben ihr auf dem Fensterplatz, beide schliefen. Auch in den anderen Reihen schienen alle zu schlafen. Ich beugte meinen Oberkörper ein wenig in den Gang, hielt Ausschau nach einer Stewardess, aber es war niemand da, das Flugzeug schien von seiner Crew verlassen. Ich wollte aufstehen und jemanden suchen, ohne zu wissen, wen genau und was ich dann fragen würde, aber es kam ohnehin nicht dazu: In dem Moment, in dem ich meinen Gurt öffnete, verlor ich ruckartig den Kontakt zu allem. Ich wurde nach oben gerissen, durch die Decke geschleudert, hinaus in die Dunkelheit. Hier bin ich noch immer und kann niemandem meine Geschichte erzählen, außer mir selbst.
Alles, was ich von dir weiß
Sie griff in die Tragetasche, die auf ihrem Schoß stand, ließ den Arm bis zum Ellbogen darin verschwinden, schien etwas zu suchen. Es knisterte und raschelte, klimperte und klackerte, dann zog sie den Arm wieder heraus. Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt sie den Stiel einer Traubenrebe, die so traubenrebenförmig aussah, als sei sie gephotoshoped, angeglichen an das Ideal einer Traubenrebe, glänzend, schwer und prall. Sie hielt sie mit der einen Hand vor ihrer Brust und begann mit der anderen, einzelne Trauben davon abzupflücken und sie sich in den Mund zu stecken. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, oder drei Stationen, bis nur noch das kahle Gerippe übrig war. Sie klappte den kleinen Mülleimer unter dem Fenster auf – er war voll. »Ich nehme es!«, hörte ich mich plötzlich selbst sagen und muss genauso überrascht ausgesehen haben wie sie.
Wir hätten das alles auch haben können
Ich stehe mit nacktem Oberkörper vorm Spiegel und hebe abwechselnd meinen linken und meinen rechten Arm. »Erinnerst du dich noch an Meike, mit der du im Kindergarten warst?«, hat sie mich vorhin beim Kaffee gefragt und ich wusste gleich, was jetzt kommen würde, weil sie es mir schon neulich am Telefon erzählt hat. Sie vergisst oft, worüber wir gesprochen haben. »Ja, Mama. Die Tochter von Ulli.« Meine Brüste bewegen sich mit dem jeweiligen Arm nach oben. Ich kann keinen Unterschied erkennen. »Die hat ja nun Brustkrebs ganz schwer. Schlimm. Die ist so alt wie du!« Ich inspiziere meine Nippel und die umliegende Haut. War diese braune Stelle schon immer hier? »Ulli ist natürlich völlig fertig. Dauernd im Krankenhaus, sitzt bei ihr, wenn sie die Chemo kriegt.« Manchmal habe ich so ein komisches Drücken unter der Achsel. Ich knete die Haut mit Daumen und Zeigefinger, spüre das drüsige Gewebe, frage mich, wie sich ein Knoten davon unterscheiden würde. »Kann man sich gar nicht vorstellen, was die durchmachen. Meike hat doch zwei kleine Kinder.« Da ist nichts. Ich ziehe meinen BH wieder an, knöpfe die Bluse zu, schließe die Badezimmertür auf. Obwohl ich alleine lebe, sperre ich mich immer ein.