Spurwechsel
Erschienen in Spurwechsel #2
Dazwischen
Es geht um Liebe. Geht es ja immer, wenn man ehrlich ist. Aber wer ist schon ehrlich? Wer kann sich das erlauben? Eben. Also geht es um Freundschaft. Wollen wir uns erstmal darauf einigen? Gut. Es geht um eine große Freundschaft, zwischen Männern, nein, eher noch Jungs. Gerade noch Jungs. Solche, die mit geklautem Bier durch die Nacht laufen und sich schubsen und schreien, die ihre Flaschen gegen die Hauswand feuern und wegrennen, die sich an Straßenlaternen hoch hangeln, in Telefonzellen pinkeln, Briefkästen anzünden, den Mädchen hinterher rufen, Seitenspiegel abbrechen, die ganze 17a wach klingeln und sich am Ende einen Döner teilen.
Markus. Luca. Farid.
Markus wohnt in 16c. Er könnte theoretisch von seinem Zimmer aus rüber in Lucas schauen, aber der hat eigentlich immer die Rollos unten. Wahrscheinlich wichst er.
Luca wohnt in 17a. Er kann von seinem Zimmer aus in Farids schauen. Der sitzt meistens an seinem Schreibtisch und tut so, als würde er Hausaufgaben machen. Dabei schaut er sich wahrscheinlich Tittenbilder auf dem Rechner an.
Farid wohnt in 16c, acht Stockwerke unter Markus. Er kann bei Samira aus seiner alten Klasse ins Zimmer schauen, aber darauf würde er gerne verzichten. Die blöde Kuh kämmt sich sowieso nur dauernd die Haare, schaut dabei in den Spiegel und probiert verschiedene Gesichtsausdrücke aus. Sie denkt vermutlich, sie könnte ganz super wechseln zwischen sexy und süß, selbstbewusst und verlegen, arrogant und freundlich. Dabei sieht bei ihr alles genau gleich aus: dumm. Samira will Schauspielerin werden, hat sie mal in der Pause erzählt, als sie sicher war, dass ihr besonders viele Jungs zuhören. Dabei hat sie sich an den Haaren rumgefummelt, die immer so um den Finger gedreht, und gespielt schüchtern in die Runde gelächelt. Ihre Freundinnen haben ihr versichert, dass sie das richtige Aussehen dafür hätte und auch voll viel Talent und ne super schöne Ausstrahlung. Das wäre ja besonders wichtig heutzutage, dass man Ausstrahlung hat, weil sonst könnte man sich ja nicht von der Konkurrenz unterscheiden und dann kriegt man halt auch keine Rollen. Die andern Mädchen sind nämlich selbsternannte Show-Biz-Expertinnen, ausgebildet durch sechsundneunzigtausend Staffeln GNTM, DSDS u.v.m.
Mist. Jetzt hatte Farid sich schon wieder ablenken lassen von so bescheuerten Gedanken über diese bescheuerte Tussi. Dabei müsste er eigentlich einen Aufsatz schreiben: „Die Gracchen: Anfang vom Ende des römischen Reichs?“ Seit letztem Sommer ist Farid nämlich auf dem Gymnasium, er hatte den besten Realabschluss seines Jahrgangs. Schon die ganze Zehnte über hatten die Lehrer ihn ständig beiseite genommen und gefragt, was er nach dem Abschluss denn vorhabe. Ob er weiter mache. Er müsse doch, er hätte doch das Zeug dazu, aus ihm könne doch was werden, er solle sich bloß nicht locken lassen von dem schnellen Geld einer Ausbildung. Abitur und dann studieren, das könne er doch schaffen, wenn er sich nur genügend anstrenge. Und deshalb macht Farid jetzt halt Abi, auch, wenn er nicht so genau weiß, was er denn danach überhaupt studieren soll und auch, wenn seine Freunde ihn damit ein bisschen verarschen. Vor allem weil sie jetzt halt Geld verdienen und er immer noch seinen Alkohol von 20 Euro Taschengeld im Monat finanziert. Aber das geht schon. Man muss nur das richtige kaufen, es gibt Wodka für 5 Euro und wenn man jung ist, dann macht das nichts, dann hält der Kopf das aus und dann reicht das Geld sogar noch für Döner, ab und zu. Oder man muss halt bei anderen mittrinken, gute Freunde teilen sogar Schnaps und Kippen.
Farids Handy klingelt. Es ist Luca. „Was geht?“, fragt Farid und Luca antwortet: „Nichts geht, komma Fensta!“. Farid öffnet das Fenster, lehnt sich raus und schaut rüber, nach oben. Da steht Luca. Er raucht, legt auf, als er Farid sieht und ruft: „Was machst du, Digger?“ Die Worte klatschen zwischen den Wänden hin und her, hallen durch die Siedlung, als gingen sie jeden etwas an. „Nichts, Mann. Lass unten treffen.“, ruft Farid zurück, vor allem, weil er keinen Bock hat, auf diese Art längere Gespräche zu führen.
Luca hat Bier mitgebracht, das sie jetzt auf der Tischtennisplatte trinken, als wäre das ein ganz normales Hobby, wie Fußballspielen oder so. Farid fragt nicht, wo das Bier herkommt, er findet es nicht gut, dass Luca klaut, aber er will auch nicht rumspießen und außerdem ist es natürlich praktisch, dass einfach so welches da ist. Es wird schon langsam dunkel, als Markus dazu kommt. „Na, ihr Penner? Was macht ihr?“. „Siehst du doch“, sagt Luca, öffnet ein Bier mit dem Feuerzeug und gibt es Markus. Farid sagt gar nichts. Seine Hände schwitzen auf einmal, also stellt er seine eh schon leere Flasche ab und schaut angestrengt in der Gegend rum, die er auswendig kennt. Ihm fällt ein, dass er um acht seine Schwester abholen soll. Sanaz ist 14 und ihre Freundin wohnt nur ein paar Blocks entfernt, aber Amir, der älteste Bruder, traut ihr nicht über den kurzen Weg. Farid ist es eigentlich egal, was sie mit wem macht, aber er hat auch keinen Bock, sich mit Amir anzulegen. Luca und Markus labern inzwischen die übliche Scheiße, zählen Automodelle auf und streiten darüber, welches geiler ist. Als Samira aus der Haustür der 17 a kommt, stößt Luca sich von der Platte ab und geht ihr lässig entgegen. Sie treffen sich auf halbem Weg, Luca legt seine Hände auf ihre Hüften und dann küssen sie sich erstmal ausgiebig möchtegern-hollywoodreif im Schein der insektenumzingelten Hoflaterne. Farid wird flau im Magen. „Ist noch ein Bier da?“, fragt er Markus, der ihm das letzte rüber schiebt, als wüsste er, worum es geht. Dabei ist alles noch viel komplizierter. Samira und Luca kommen Händchenhaltend zu ihnen. Kurzer Rock, dazu Chucks und weiter Kapuzenpulli. Nicht schlecht, denkt Farid, sie hat das schon ganz gut raus, diese heiß-aber-cool Nummer. Grinsend zieht Samira eine Flasche Gorbatschow unter dem Pulli hervor.
Wenn man das letzte Bier ohne abzusetzen runterkippt, weil alle sagen, dass jetzt Wodka getrunken wird, und wenn man, weil man vom Bier schon ein bisschen durcheinander ist, bei jedem Trinkspiel verliert und wahrscheinlich die halbe Falsche Wodka alleine leert, dann kommt am Ende eben dabei heraus, was eigentlich drinnen bleiben sollte.
Farid kotzt ins Gebüsch hinter dem Basketballkorb. Von der Tischtennisplatte aus kann man ihn nicht sehen, aber was ein guter Freund ist, der bleibt nicht einfach auf der Tischtennisplatte sitzen, wenn es dem anderen schlecht geht. Die Hand, die sich auf Farids Schulter legt, gehört Luca. Er lacht. Das ist schon okay, er hat ja auch nicht gerade wenig getrunken und außerdem sieht er noch nicht, dass Farid heult. Als der den Kopf hebt und sich mit dem Handrücken Kotze und Tränen aus dem Gesicht wischt, hört Luca auf zu lachen. „Alter, was is los mit dir?“. Farid schüttelt den Kopf, sagt „Nichts“ und will aufstehen. Luca hält ihn fest. „Ey! Warte, Mann! Du kannst hier nich rumflennen wie ’n Mädchen und dann nich sagen, was los ist!“. Farid lässt sich zurückhalten, weil er nach dem ganzen Gekotze gar keine Kraft mehr hätte, sich gegen Luca zu wehren. Aber auch, weil er nach dem ganzen Wodka keine Kraft mehr hat, sich selbst zurückzuhalten. „Es ist wegen Sam, oder?“, fragt Luca. Sam wird Samira von den Leuten genannt, die sie mögen. „Schlag sie dir aus dem Kopf, Mann, sie ist mit mir zusammen, also mach keinen Scheiß.“ „Samira ist mir egal.“, antwortet Farid und dreht sich Richtung Tischtennisplatte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht nur außer Sicht- sondern auch außer Hörweite sind. Dann sagt er, was er sagen muss. „Es ist wegen dir.“ Den ganzen Rest verschweigt er. Luca verzieht das Gesicht, wie er es früher oft in Mathe gemacht hat. Farid weiß genau, dass dieser Ausdruck nicht einfach heißt, dass Luca kein Wort verstanden hat, sondern dass er glaubt, kein Wort verstanden zu haben, weil man ihn verarschen will, indem man ihm extra komplizierten Scheiß erzählt. Aber er bewirft Farid nicht mit Kugeln aus zerknülltem Papier, wie damals den Lehrer. Er haut ihm eine runter. Farid fällt ins Gebüsch. Luca schreit ihn an: „Bist du jetzt völlig beschränkt oder was? Sauf mal nich so viel, du laberst ja nur noch Scheiße!“ Während er weggeht, bleibt Farid einfach liegen und wünscht sich, das Gras über ihn wächst.
Es geht um Liebe. Solche, die sich in wildem Knutschen auf der Tischtennisplatte äußert, so aufregend, dass man nicht mitkriegt, was zwanzig Meter weiter passiert, dass man überhaupt auch sonst nichts mitkriegt, egal wie offensichtlich manches ist und dass man nicht mehr ganz klar entscheiden kann, was in Ordnung geht und was einfach nur Scheiße ist.
Und dann geht es noch um die Liebe, die man mit sich alleine ausmachen muss. Von der man erst sehr viel später wissen wird, dass alles gar nicht so schlimm war, weil das erste Verliebtsein, egal wie heftig es einem vorkommt, so oder so vergeht, mit oder ohne Knutschen.
Farid sitzt an seinem Schreibtisch und schaut sich keine Tittenbilder an, hat er noch nie. Stattdessen liest er seinen fertigen Aufsatz über die Gracchen durch. Er ist gut geworden. Er hatte dann doch ziemlich viel Zeit dafür – zwei Wochen Hausarrest, weil er seine Schwester nicht abgeholt hat. Wenn seine Eltern oder Amir wüssten, was Luca weiß, hätte Farid den Rest seines Lebens Hausarrest.
Luca hat sich ein paar Tage nicht gemeldet, aber dann klingelte Farids Handy doch und sie standen wieder am Fenster und haben sich Dinge zugerufen, die ruhig jeder wissen darf. Markus hat nicht angerufen, wahrscheinlich ist ihm nicht mal aufgefallen, dass Farid Hausarrest hat, aber das ist in Ordnung. Farid kann ihn manchmal sehen, wenn er Samira besucht, natürlich nur solange, bis sie die Gardinen zuziehen. Das flaue Gefühl im Magen hat er dabei immer noch jedes Mal, aber er weiß auch, dass er das aushalten muss, wenn er nicht will, dass sich alles ändert zwischen allen. Schon bald werden sie sich wieder auf der Tischtennisplatte treffen, erst mit und sehr wahrscheinlich irgendwann auch wieder ohne Samira, doch davon soll nichts abhängen. Denn es geht um Freundschaft.