Tippgemeinschaft
Kurze Geschichten über traurige Frauen – Erschienen in der Tippgemeinschaft 2019
Heute Abend soll es noch gewittern
Bis zu den Knien im Wasser stand er dort, ein älterer Mann, nackt und seltsam ins Schilf gedrückt. Er starrte zu mir rüber, starrte mich an, jedenfalls kam es mir so vor, genau konnte ich es nicht erkennen, er war zu weit weg. Ich sah mich um. Einige Meter rechts von mir lag ein Teenager mit dem Kopf auf seinem Rucksack und las, links kämpfte eine Mutter mit ihrem Kind, das keinen Sonnenhut tragen wollte. Bemüht beiläufig, als sei es keine Reaktion, sondern etwas, das ich sowieso vorgehabt hatte, setzte ich mich auf, löste die Schleife meines Bikinioberteils und legte es neben mich. Ich wagte nicht, in seine Richtung zu sehen, als ich auch das Unterteil abstreifte. Eine angenehme Wärme legte sich auf die Hautstellen, die ich gerade erst entblößt hatte. Ich schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte mich auf das leise Rascheln, das ich vom Ufer her zu hören glaubte. Als ich die Augen schließlich wieder öffnete, sah ich eine Frau neben dem Mann stehen. Sie war ebenfalls nackt und ebenfalls alt, die beiden schienen sich zu unterhalten. Ich lag noch eine Weile regungslos da, dann zog ich mich an und fuhr nach Hause.
Wir sehen uns viermal im Jahr und telefonieren zwischendurch
»Wenn du dir irgendwen aussuchen könntest, der deine Mutter wäre, wen würdest du dann nehmen?«, fragte sie mich. »Berühmte Leute oder echte Leute?« »Berühmte Leute sind auch echt.« »Ja, aber nicht echt in meinem Leben.« »Gut, also: Berühmte und echte Leute.« Als erstes kam mir meine Chefin in den Sinn, ich bewunderte sie, aber ich konnte mir nicht vorstellen, von ihr in den Arm genommen zu werden, und wenn ich mir schon eine Mutter aussuchen durfte, dann sollte es unbedingt eine sein, die mich öfter umarmte. Die Frau, die beim Bäcker um die Ecke arbeitete, sah mich manchmal so an, als würde sie mich gern mal fest drücken, wenn ich Sonntags bei ihr mein einzelnes Brötchen kaufte. Aber ich fürchtete, dass ich als ihre Tochter nicht nur viel Liebe, sondern auch zu viel Kuchen bekommen würde. Das Bild Angela Merkels tauchte plötzlich in meinen Gedanken auf, verpuffte aber sofort wieder und schließlich kam ich auf Iris Berben. Mir fiel ein, dass ich mal ein Interview in einer Kochzeitschrift mit ihr gelesen hatte, in dem sie erzählte, dass sie ihren Dinner-Gästen immer kleine Geschenke auf den Teller legte. Auf einmal spürte ich eine große Sehnsucht danach, von ihr ins Bett gebracht zu werden. »Ich weiß nicht.«, antwortete ich. »Eigentlich bist du schon ganz in Ordnung.«
Morgen haben wir das alles vielleicht schon vergessen
Ich lag mit dem Rücken auf der Drehplatte eines Kinderspielplatzes, es war Nacht, die Sterne funkelten und du gabst der Platte immer wieder kurze Stöße, um sie in Bewegung zu halten. Vielleicht lag es an den vielen Umdrehungen, vielleicht auch am Alkohol, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, mich von der Platte zu lösen, ich wurde leichter und schließlich war mir, als schwebte ich einige Zentimeter über allem. Kurz blitzte die Vorstellung in mir auf, ich könnte, von der Schwerkraft befreit ins All geschleudert werden. Ich sah mich durch ewige Dunkelheit schweben, haltlos und ohne jede Chance auf Rückkehr. »Mir ist schlecht.«, sagte ich. Du lachtest und hörtest nicht auf, mich zu drehen, ich lachte mit und rief dabei: »Bitte, ich mein’s ernst! Stop!«. Du ließt dich in den Sand fallen, die Platte wurde langsamer, ich spürte wieder Kontakt und als ich gerade an dir vorbei kreiste, rollte ich mich runter und landete neben dir. Unsere Körperseiten berührten sich, ich spürte deine Wärme, das Heben und Senken deines Brustkorbs. »Schade, dass wir nicht verliebt sind.«, sagte ich. »Sonst wäre das hier sehr romantisch.«
Früher haben wir viel über die Zukunft geredet
Sie stieg aus einem schwarzen Auto. Wir waren zu Fuß unterwegs, mein Vater und ich, kamen gerade aus dem Hähnchen-Imbiss, in dem wir immer aßen, wenn ich ihn besuchte. Der Weg zurück in seine Wohnung war nicht weit, wir brauchten trotzdem lang. Er war schnell außer Atem, blieb zwischendurch einfach stehen. Das Licht an diesem Tag war grell, blendete vielleicht ein wenig, trotzdem bin ich mir sicher, dass sie es war. Ich weiß noch, dass ich eine seltene Verbundenheit zwischen mir und meinem Vater spürte, als wir einfach in unserem Schneckentempo an ihr vorbei gingen. Fand es schön, dass wir beide nicht zu den Menschen gehörten, die in Aufregung gerieten, wenn sie einer prominenten Person begegneten. »Was die Künast wohl hier wollte?«, fragte ich meinen Vater später, als wir zusammen an seinem Küchentisch saßen und Kaffee tranken. »Wieso die Künast?« »Na, die ist doch vorhin aus dem Auto da gestiegen. Hast du sie nicht gesehen? « »Nee. Das war die nicht.« »Doch, das war die.«
Jeden Morgen stehst du auf
Wenn sie zur Arbeit fuhr, war sie davon überzeugt, dass sie eine Affäre wollte. Sie hatte sich einen schweigsamen Kollegen aus einer anderen Abteilung ausgeguckt. Was genau er machte, wusste sie nicht, vielleicht etwas mit Finanzen, etwas, wofür man ein ernstes Gesicht wie seines gebrauchen konnte. Wenn sie ihn in der Küche traf, weil sie sich zufällig im selben Moment wie er einen Kaffee holte, schien er oft in Gedanken versunken und sie stellte sich vor, dass er im Kopf komplizierte Zahlen hin und her schob. Um ihn dabei nicht zu stören, lächelte sie nur und nickte zum Gruß, dann huschte sie zurück auf ihren Platz und ließ den Kaffee kalt werden, während sie sich Dinge ausmalte, die im Kopierraum passieren könnten. Auf dem Nachhauseweg dachte sie darüber nach, wie sie den ersten Schritt machen würde, wie sie ihm signalisieren würde, dass sie interessiert war und woran genau sie interessiert war, nämlich nur an den Dingen im Kopierraum. Aber dann kam sie immer an den Punkt, an dem es zwischen ihnen schwierig wurde, weil er sich nämlich auch Dinge außerhalb des Kopierraums wünschte und das für sie nun mal nicht in Frage kam. Sie stellte sich vor, wie ihn die ganze Angelegenheit so aus der Fassung brachte, dass sich Fehler in seine Zahlen schlichen, woraus gravierende Folgen für die gesamte Firma entstanden, die dazu führten, dass sie und viele andere ihren Job verloren. Wenn sie aus dem Bus stieg, hatte sie die Sache beinahe aufgegeben und wenn sie die Haustür aufschloss, war sie sicher, dass sie mit ihm nichts zu tun haben wollte.
Lass dich umarmen, war schön dich zu sehen
Wir kannten uns eigentlich nicht gut genug für so ein intimes Gespräch. Das war jedenfalls mein Gefühl, aber manchmal hatte ich Schwierigkeiten, diese Art von Grenzen richtig einzuschätzen. Sie erzählte mir, dass sie gerade ihre Tage hatte und sich sorgte, da ihre benutzten Tampons nicht die übliche Farbe aufwiesen, sondern von einem wässrigen Blau getränkt waren. Ich wusste nicht, was ich ihr raten sollte, dieses Problem hatte ich bisher nie gehabt. Sie wollte jedoch wissen, was ich an ihrer Stelle tun würde, also versuchte ich, mich in ihre Lage hinein zu versetzen. Ob sie schon beim Arzt gewesen sei, fragte ich. Sie erklärte, dass sie sich vor Frauenärzten so sehr fürchtete wie andere vorm Zahnarzt. Ich verstand. Ob sie Schmerzen habe, fragte ich. Keine, die über das übliche Maß hinausgingen, antwortete sie. Ob sie mal Kinder wolle, fragte ich. Was ich für komische Fragen stellen würde, sagte sie und lachte etwas lauter, als ich es für angemessen hielt, aber wie gesagt, ich habe manchmal Schwierigkeiten diese Dinge einzuschätzen. Wir schwiegen einen Moment, dann musste sie los.