Wortlaut
Finaltext im Wortlaut FM4 Literaturwettbewerb 2017 – Erschienen in der Anthologie “Grell” im Luftschacht verlag
I Love Extreme Crazy Volume
Wenn es piepte, blieben nur die Unschuldigen stehen. Sie drehten sich mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen zur Kassiererin um, sofort bereit, die leeren Hände und Taschen zum Beweis der eigenen Rechtschaffenheit vorzuzeigen. Josy und Nesrin rannten los. Die Taschen voller Lidschatten, Wimperntuschen und Lippenstifte, das Blut voll Adrenalin, stürzten sie vorbei an Rollatoren und Kinderwagen, an empörten Blicken und „Hey!“-Rufen. Josys Oberschenkel rieben unter ihrem Rock brennend aneinander, Nesrins Kopftuch rutschte ihr in den Nacken. Mit heißen Gesichtern erreichten sie den Spielplatz im Park, ließen sich in den Sandkasten fallen und rollten sich keuchend auf den Rücken. An ihren Schläfen klebten Haarsträhnen, Schweiß lief in ihre Nacken, wurde kalt. Feiner Nieselregen legte sich auf Schaukel und Rutsche, Drehscheibe und Klettergerüst, Haut und Kleidung. Außer dem Rauschen entfernter Motoren und den knirschenden Schritten vereinzelter Hundebesitzer, war nur der Atem der Mädchen zu hören, langsam wieder ruhiger werdend. Josy stützte die Ellenbogen in den Sand. „Zeig her!“ Nesrin grinste, setzte sich auf, ließ sich von Josy das Kopftuch zurecht zupfen. Sie griff in die Taschen ihres knöchellangen Mantels und reihte auf dem Sandkastenrand nebeneinander, was sie erbeutet hatte: Happy Cherry, Million Lashes So Couture, Tantalizing Taupe, Brazilian Coffee und Kiss me I’m tipsy. Josy legte dazu, was sie aus der Bauchtasche ihres Kapuzenpullovers hervorholte: Good Karma, Illegal Length, Everyday Grey und Naked Venus. Sie fuhr mit den Fingerkuppen über die neu glänzenden Teile, berührte jedes einzelne. Dann nahm sie einen Lippenstift, drehte ihn auf und malte einen kurzen, dunkelroten Strich auf ihren Handrücken, den sie dicht neben ihren Mund hob. Nesrin nickte. „Passt perfekt!“
Josy hatte ihre Mutter angefleht, ihr für den Schwimmunterricht einen neuen Badeanzug zu kaufen. Einen, der das Fett zumindest ein bisschen besser in Form halten würde, als das durchgescheuerte und ausgeleierte Stück Stoff, das ihre Cousine letztes Jahr aussortiert hatte. Aber ein Badeanzug in Übergröße war teuer und stand auf der Liste dringlicher Anschaffungen weit hinter Winterschuhen und einem funktionsfähigen Staubsauger. Josy stand vor dem Flurspiegel und starrte auf den großen Lappen an ihrem Körper. Dass sich das Teil im nassen Zustand nicht straff über ihren Bauch spannen, sondern zwischen den Speckfalten kleben bleiben und damit andere Stellen freilegen würde, war absehbar. Genauso wie die Reaktionen der anderen. Philipp, der Josy immer Tittenmonster nannte, weil sie als einzige schon ein wenig Brustansatz hatte, würde versuchen, ihr den Träger runterzuziehen. Marie und die anderen Knochenmädchen würden darüber kichern und „Gleich heult sie wieder“, flüstern, laut genug, dass Josy es auch sicher hören würde. Das alles würde vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht irgendwie zu ertragen sein, wenn sie nicht ohne Nesrin dahin gemusst hätte. Josys Mutter erschien hinter ihr im Spiegel. Sie zuckte mit den Schultern. „Passt doch.“
Das Kopftuch trug Nesrin seit der fünften Klasse. Sie sei jetzt kein Kind mehr, hatte ihre Mutter in den Sommerferien davor gesagt und ihr einen dunkelblauen Seidenschal geschenkt. Nesrin hatte die Ferien damit verbracht, verschiedene Bindetechniken auszuprobieren und dabei sogar Spaß gehabt. Es war ein bisschen wie Verkleiden und außerdem fühlte es sich sehr erwachsen an. Dass sie es mit Kopftuch in der Schule von nun an schwer haben würde, merkte sie erst, als die Jungs in der neuen Klasse sie Terroristin nannten. Der Zehnminutenvortrag, den der Lehrer daraufhin über Toleranz und Vorurteile hielt, änderte nichts daran, dass bei Gruppenaufgaben keiner mit ihr zusammenarbeiten wollte. Keiner außer Josy, die auch ohne Kopftuch niemand mochte. Wenn Josy nachmittags mit zu Nesrin kam, saßen sie zusammen auf dem für das kleine Zimmer viel zu großen Bett und machten Hausaufgaben oder taten so. Ab und zu kamen Nesrins kleine Brüder grinsend herein, zogen sich in gleichem Maße schüchtern und draufgängerisch gegenseitig am T-Shirt und sagten etwas auf Persisch, woraufhin sie aufgedreht kicherten und Nesrin sie aus dem Zimmer schmiss. Wenn Josy fragte, was sie gesagt hatten, wechselte Nesrin schnell zu ihrem Lieblingsthema: Wer von den anderen Mädchen wieso eine blöde Kuh war. Marie zum Beispiel schnipste immer, wenn sie sich mit durchgestrecktem Arm meldete, selbst, wenn es nur für Schleimaufgaben wie Tafel wischen oder Kreide holen war. Sophia warf die glänzenden Haare dreimal pro Minute über die Schulter, links, rechts, links. Helena heulte nach jeder Mathearbeit, ließ sich von den anderen in den Arm nehmen und trösten, „Süße, das wird schon!“. Natürlich wurde es, bekam sie doch nie etwas Schlechteres als eine Zwei. Henni wurde jeden Montag und Donnerstag von ihrer Mutter gefahren, den Cellokasten zwischen den Knien, „Tschüß, mein Schatz, viel Spaß heute!“, Winke-Winke. Und keiner machte sich darüber lustig. Keiner außer Josy und Nesrin, hier in Nesrins Zimmer, wo Josy den Bauch nicht einzog und Nesrin kein Kopftuch trug. Hier mussten sie nicht so tun, als hätten sie etwas nicht gehört und konnten alles sagen, anstatt es sich nur zu denken. Fast alles. Denn dass ihr Vater sie selbst hatte entscheiden lassen, zwischen Burkini und Asthma-Attest, das traute sich Nesrin nicht zu erzählen.
Der Sportlehrerin legte Josy Entschuldigungszettel vor, die von einem Vater geschrieben waren, den sie zwar nicht kannte, dessen Unterschrift sie dafür aber umso besser fälschen konnte. Erst war es eine Erkältung gewesen, dann Neurodermitis, dann ein geprellter Arm. Ein einziges Mal war sie hingegangen. Schon in der Umkleidekabine war sie sich zwischen all den Adidas-Badeanzügen und H&M-Bikinis wie ein wild gemustertes Walross vorgekommen. Philipp hatte es tatsächlich auf ihren Träger abgesehen. Hielt ihn fest, als sie vom Startblock sprang. Ihre linke Brust rutschte heraus, für alle zu sehen, den Bruchteil der Sekunde, bevor sie mit einem dumpfen Gluckern unter der Wasseroberfläche verschwand. Panik, Verschlucken, Husten. Hektisch strampelte sie an den sicheren Beckenrand. „Bis zum Ende der Bahn schwimmen! Das gilt auch für dich, Madame!“, rief die Sportlehrerin und klatschte energisch in die Hände. „Da gehst du nicht mehr hin!“, hatte Nesrin hinterher beschlossen und die erste Entschuldigung diktiert. Seitdem hatte auch Josy Dienstags nach der fünften Stunde frei. Die kleine Fußgängerzone, in der es einen dm, drei Bäcker, zwei Frisöre, einen Optiker, einen 1-Euro-Shop, Ernsting’s Family, Douglas und einen Dönerladen gab, war nur fünf Minuten von der Schule entfernt. „Wir müssen einfach nur die Teile raussuchen, an denen nicht so ein dicker Plastikstreifen klebt.“, hatte Nesrin auf dem Weg zu dm erklärt. Beim ersten Mal steckte jede mit feuchten Fingern einen Kajalstift in den Ärmel. Es piepte nicht.
Das helle Neonlicht im Mädchenklo ließ die Haut der beiden grau aussehen. Alles, was sie bisher erbeutet hatten, lag in einem fleckigen Stoffbeutel auf dem Waschbeckenrand. Nesrin griff hinein und zog einen Lidschatten heraus wie ein Tombolalos. Pearly Blue Sky. Sie hielt Josy den Beutel hin. Die Plastikdöschen, Fläschchen und Stifte klackerten, als sie darin kramte. Stripped Nude. „Das sieht man doch gar nicht!“, sagte Nesrin, griff noch einmal in den Beutel und zog Eternal Gold heraus. “Hier, besser!“ Josy öffnete das Döschen, strich mit dem Zeigefinger über das schimmernde Mousse, hielt ihn zögernd in der Luft, sah noch einmal zu Nesrin. „Wir machen das jetzt wirklich?“ Nesrin nickte. In den 15 Minuten, die ihnen bis zur ersten Stunde blieben, verteilten sie Lovecloud und Rebel Rose in großen Kreisen auf ihren Wangen, malten die Lippen in Midnight Plum und Deep Truth aus und umrahmten ihre Augen mit Rock’n Roll Bride und Psychedelic Sister. „Kannst du mir mal helfen?“, fragte Josy und hielt Nesrin Lashes To Kill Ultra Curl & Volume hin. Nesrin nahm die Wimperntusche, pumpte mit der Bürste ein paar mal in das Fläschchen, so wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte, und stellte sich dicht vor ihre Freundin. „Aufreißen!“ Josys Augen brannten, aber sie schaffte es, nicht zu blinzeln, während Nesrin mit der geschwungenen Bürste vorsichtig über ihre Wimpern strich. „Fertig.“ Sie sahen in den Spiegel. Da standen zwei 13 Jährige zwischen beschmierten Fliesen, zwischen „I love Lucas“, „Scheiß auf Herr Löns“ und unzähligen Schimpfwörtern, von denen sie manche besonders gut kannten, weil sie hinter ihren eigenen Namen standen. Josy und Nesrin lächelten. Das helle Neonlicht war egal geworden.
„Kriegst du nicht Ärger mit Allah, wenn du dich so aufstylest?“, fragte der picklige Marvin, der am anderen Ende des Klassenraums auf seinem Stuhl kippelte und stolz grinste, als die anderen lachten. Nesrin hoffte, dass niemand sah, wie sich ihre Wangen von Rebel Rose zu Schamrot färbten. Josy nahm ihre Hand und zog sie zu ihren Plätzen, ohne jemanden anzusehen. „Ich wusste gar nicht, dass Lesben sich schminken!“ „Hey Josy, willst du dich als Zirkuselefant bewerben?“ „Kann ich in Kunst neben euch sitzen? Ich hab meinen Tuschkasten vergessen!“ Clowns, Nutten, Transen. Sie hatten alles durch, als der Lehrer endlich die Tür hinter sich schloss. Während er eine DNA-Doppelhelix an die Tafel malte, sah Josy zu Marvin rüber. Ihr Herz klopfte unangenehm schnell, als ihre Lippen ein lautloses „Fick dich“ formten. Deep Truth. Bevor Marvin reagieren konnte, sah sie wieder weg. Nach der letzten Stunde wuschen sie ihre Gesichter mit kaltem Wasser. Die rauen Papierhandtücher hinterließen rote Flecken auf der Haut, die verschwunden waren, bevor sie am Mittagstisch saßen.
Bei Josy zu Hause gab es von allem zu wenig, außer vom Essen. Der Kühlschrank war voller Pudding, Milchreis und Salami, in der Tiefkühltruhe lagen Pizzapackungen unter Pommessäcken neben Nuggetschachteln, das Innere der Vorratsschublade war ein einziges Geknister aus Chips- und Süßigkeitentüten. Wenn Josy aus der Schule kam, durfte sie selbst entscheiden, was sie essen wollte. Ihre Mutter hing mit halboffenen Augen am Tisch und sah ihr beim Essen zu, dann machte sie Mittagsschlaf. Wenn sie am späten Nachmittag wieder aufstand, steckte sie den schweren Kopf ins Wohnzimmer und fragte Josy, die dort mit einer Auswahl aus der Vorratsschublade vor dem Fernseher saß, ob die Hausaufgaben gemacht seien. Dass die Antwort ihrer Tochter meistens nicht gelogen war, hätte sie regelmäßig auf den halbjährlichen Elternabenden erfahren können, aber dort ging sie nicht gerne hin. Die Hochhaussiedlung, in der sie lebten, grenzte an eine bessere Wohngegend und die Bewohner dieser Gegend waren die besseren Eltern der Mitschüler ihrer Tochter. Sie lebten das bessere Leben, von dem auch Josys Mutter geträumt hatte, bevor sie von einem Arschloch schwanger geworden war.
Nesrin klemmte die Lehne ihres Schreibtischstuhls unter die Türklinke, Josy zog den Stoffbeutel, den sie abwechselnd bei sich versteckten, aus der Lücke zwischen Bettende und Wand hervor. Sie kippten alles auf der schweren, braunen Tagesdecke aus. Bestandsaufnahme: Colossal Go Chaotic! Volum’Express, Forbidden Volume, Big & Beautiful Boom, Glam Deluxe High Shine Lacquer, I Love Extreme Crazy Volume und All Eyes On Me Waterproof. Sweet Lust, Birthday Suit, Camouflage, Leather and Lace, Flawless, Hot Chocolate, Kama Sutra und Tu-Tu-Turqoise. Radiant Orange, Sexy Kitten, J’adore, Pink Punch, D for Danger, Heroine und Whipped Caviar. Baby Doll, Pinch Me, Secret Lovers, Hypnotic Nights, Electric Marshmallow, Springtime in Central Park und Absolutely Me. „Eigentlich haben wir langsam genug, oder?“, fragte Nesrin, der auf einmal nicht mehr ganz wohl dabei war, dass ihre Mutter nebenan in der Küche mit Geschirr klapperte, während auf ihrem Bett ein Regenbogen an Gründen für lebenslangen Hausarrest lag. Josy nickte. „Morgen ist das letzte Mal.“
Bei Douglas roch es nach allem, was in den Regalen stand, gleichzeitig. Josy und Nesrin führten ihr Schauspiel namens „Danke, wir schauen nur“ auf. Während sie Richtung Make-up-Abteilung schlenderten, blieben sie immer wieder stehen, probierten Handcremes aus, hielten die Nasen in Duftkerzen und lasen die Rückseiten von Badezusätzen und Body Lotions. Vor der Wand mit der Schminke wurde es ernst. Jetzt nicht umdrehen, nicht gucken, ob die Verkäuferin guckt. Sie nahmen einzelne Teile aus dem Regal, drehten sie zwischen den Fingern, ohne sie wirklich anzusehen, legten sie wieder an ihren Platz, nahmen etwas anderes. Der Trick war, irgendwann ein Teil im Ärmel verschwinden zu lassen, während man so tat, als legte man es zurück. Dann steckte man die Hände in die Taschen, wendete sich interessiert einem anderen Regal zu und ließ dabei den Gegenstand aus dem Ärmel in die Tasche rutschen. Es hatte so oft geklappt. Bis jetzt. Als die Frau, die eben noch scheinbar gelangweilt Parfum auf ihr Handgelenk gesprüht hatte, plötzlich neben ihnen stand, verpuffte der Impuls zu rennen an ihrer Autorität. „Kommt ihr bitte mal mit?“ genügte, um die beiden Mädchen wie an einer unsichtbaren Leine in das enge Büro zu führen, von dem aus die Frau die Polizei rief. Josy und Nesrin hatten längst angefangen zu weinen, I Love Extreme Crazy Volume malte wässrig graue Schlieren in das zuckergussdicke Make-up auf ihren Gesichtern. „Na, dann zeigt mal her.“ Die Ladendetektivin ließ sie ihre Taschen leeren. Es war nicht viel dieses Mal, Josy hatte nur einen Kajal-Anspitzer, Nesrin ein Rouge-Döschen eingesteckt: Glory Days. Die Frau drehte es in der Hand. „Wollen wir mal sehen, wie glory die nächsten Tage für euch beide werden.“ „Bitte sagen Sie unseren Eltern nichts.“, bat Nesrin. „Wieso? Hacken sie dir sonst die Hand ab?“ Es klopfte. Die Polizei nahm die Mädchen mit, würde sie nach Hause bringen. Noch nicht strafmündig, ein Eintrag in die Akte, der schnell wieder gelöscht werden würde, keine große Sache, nichts, weswegen sich eine Ladendetektivin nicht darüber freuen dürfte, den Job, auf den sie dringend angewiesen war, für heute legitimiert zu haben. Was war schon die Angst vor Hausarrest gegen die Angst, aus seiner Wohnung zu fliegen?
Josy stand tropfend auf dem Startblock. Am anderen Ende des Beckens wartete die Sportlehrerin mit Stoppuhr und Trillerpfeife. Neben ihr Nesrin, barfuß, in langer Hose und Pullover, ein Klemmbrett in der Hand, auf dem sie die Zeiten ihrer Mitschüler einzutragen hatte. Das Ergebnis passte sie mal mehr, mal weniger nach unten an, je nachdem, ob derjenige normalerweise im Klassenraum Sprüche riss, darüber lachte oder schwieg. Die Lehrerin pfiff, Josy sprang. Am Beckenrand duckten sich die anderen, taten so, als würden sie von einem Tsunami überrollt. „Achtung, Quallenalarm!“ Josy sah und hörte davon nichts. Mit ausgestreckten Armen und Beinen glitt sie unter der Wasseroberfläche entlang, Wirbelsäule gerade, Gesicht nach unten. Immer wieder waren sie und Nesrin das Arbeitsblatt zur Kraulbewegung am Abend davor durchgegangen, den Armzyklus, das Paddeln, das Luftholen. Als Josy an den Beckenrand schlug, trug Nesrin unter dem misstrauischen Blick der Lehrerin die korrekte Zeit ein. Etwas über dem Durchschnitt. Josy zog sich mit der linken Hand die Metalltreppe rauf und zerrte mit der rechten den Badeanzug zurecht. All eyes on me. Die einzige Mascara, die sie vor der Mülltüte ihrer wütenden Mutter hatte retten können, war wasserfest.